Wolfgangsee: Auf den Spuren meiner Kindheit

 

Der Postbus Nr. 150 kämpft sich vom Salzburger Hauptbahnhof Richtung St. Gilgen auf Serpentinen immer weiter hinauf in die Berge, und spätestens, als mir die Ohren zugehen, wird mir ziemlich mulmig zumute. Ich mag ja die Berge überhaupt nicht, aber zu diesem Abenteuer gehören sie nun einmal dazu.

Bei der Planung dieser Reise in die Vergangenheit hatte ich die Berge so gut wie möglich ausgeblendet und stattdessen vor allem an „unser“ Ufer an dem Campingplatz gedacht: an den Blick auf das gegenüberliegende St. Gilgen und rechts auf die Ausläufer von St. Wolfgang,  ja – meinetwegen auch ein wenig an die Berge –, aber hauptsächlich an das damalige Bade- und Planschvergnügen im Wolfgangsee und die unmittelbare Nähe unseres Zeltes, später Wohnwagens, noch später Wohnwagens plus Zelt zum See.

 

Heile Welt am Wolfgangsee

 

Wir waren Stammgäste während der 60er/70er Jahre. Zunächst in der Pension Eisl, später auf dem Campingplatz. Zehn Jahre lang gab es für unsere Familie nur ein Reiseziel: den Wolfgangsee. Und dort wollte ich noch einmal hin, um auf den Spuren meiner Kindheit zu wandeln, um noch einmal ein Stückchen heile Welt zu atmen.

 

Mein Bruder und ich wurden damals jeweils irgendwann in den Sommerferien mitten in der Nacht geweckt (falls wir vor Aufregung überhaupt eingeschlafen waren), und dann ging es los, wir fuhren die halbe Nacht und den halben Tag, bis wir endlich unter der Zwölferhorn-Seilbahn in St. Gilgen hindurch fuhren. Das war für mich stets das Signal: „Jetzt sind wir gleich da!“, was in mir eine große Aufgeregtheit auslöste.

 

Nach wenigen Minuten über eine stark befahrene Hauptstraße lenkte mein Vater unseren Wagen nach links in eine Straße, die an Feldern vorbeiführte, auf denen das Stroh noch als Garben aufgestellt worden war. Darin ließ sich immer wunderbar Verstecken spielen. Den Geruch dieser gemähten Felder habe ich noch heute in der Nase, wenn ich an sie denke.

 

Vor einem Haus mit vielen mit roten Geranien geschmückten Balkonen war unsere Fahrt zu Ende: der Pension Eisl. An unsere Urlaube in dieser Pension kann ich mich kaum erinnern, da ich damals noch zu klein war. Ich habe lediglich diese Balkone vor Augen und eine Holztreppe im Inneren, die in die obere Etage führte, wo die Gästezimmer lagen. Die Erinnerungen an den Campingplatz der Eisls, auf denen wir nach etwa fünf Jahren wechselten, sind deutlich lebendiger.

 

 

Ankunft in St. Gilgen

Der Postbus Nr. 150 nähert sich der Endstation in St. Gilgen, dem Busbahnhof. Dort werde ich aussteigen. Mit Herzklopfen schaue ich aus dem Fenster – und entdecke die Gondeln der Seilbahn! Der Bus fährt drunter durch, und mein Herz schlägt einen Purzelbaum.

 

Autos hupen, als ich wenig später mitten auf der Straße stehe, um ein Foto aus genau jener Perspektive zu schießen, die man hat, wenn man mit dem Auto unter der Seilbahn durchfährt.

 

Nachdem ich meine Unterkunft in St. Gilgen bezogen habe, zieht es mich sofort an den See. Ringsrum Berge, gegenüber die Stelle, an der irgendwo der Campingplatz war. Aber wo genau? Das werde ich morgen herausfinden. Und auch, ob es die Pension noch gibt, oder, was aus ihr geworden ist.

 

Im Internet gibt es eine Seite „Seegut Eisl“, das ist ein Öko-Schafbauer, und das Haupthaus mit den Geranien-Balkonen sieht auch aus wie die Pension von damals. Da sind die Nachfahren offenbar geschäftstüchtig auf einen trendigen Zug aufgesprungen. Einen Campingplatz am See haben die auch, also werden die wohl diejenigen sein, die ich suche.

 

Los geht's!

 

Ich bin sportlich und gut zu Fuß und habe Wanderschuhe im Gepäck, also trete ich am nächsten Morgen den Fußmarsch an von St. Gilgen Richtung Abersee, wie die Gegend gegenüber heißt. Eine Stunde Marschieren habe ich einkalkuliert.

 

Allerdings ist der Weg aufgrund der Temperaturen über 30 Grad beschwerlicher als gedacht. Außerdem habe ich ein wenig unter Herz- und Kreislaufproblemen zu leiden. Bereiten mir die – wie ich finde – riesigen Berge diese Beklemmungen oder wirkt sich die ungewohnte Höhenluft auf mein Befinden aus? Wie hoch bin ich hier eigentlich? Ich habe keine Ahnung. Mein Weg führt mich einerseits an dem auf der linken Seite gelegenen schönen, türkisfarbenen Wolfgangsee entlang, andererseits aber an einer auf der rechten Seite sich erhebenden riesigen, schwarzen, abweisenden, hässlichen, gruseligen Felswand.

 

Maria hilft! In Form einer kleinen unverschlossenen Kapelle, die im Inneren angenehme Kühle bietet. Nach einer kleinen Verschnaufpause setze ich meinen Marsch fort und beschließe, dass es mir schnurzpiepe ist, was „die Leute“ von mir denken könnten, und spanne meinen Regenschirm gegen die brennende Sonne auf.

Nach einer gefühlten Ewigkeit kommt endlich das Schild, das nach links zeigt und auf den Ort und die Campingplätze hinweist. Jetzt wird es aber richtig spannend! Vor einem halben Jahr hatte ich die Reise geplant und gebucht, und nun bin ich endlich ganz kurz vor dem Ziel!

 

Ich hatte mir zwar gestern in der Touristen-Info eine Übersichtskarte über den Wolfgangsee besorgt, aber was das Feintuning bezüglich Familie Eisl angeht – da frage ich mich jetzt am besten lieber persönlich durch. Und da drüben ist auch schon mein erstes „Opfer“: Ein Bauer auf der Wiese, auf der damals die Stroh-Garben standen. Heute ist das Stroh, wie überall, aufgerollt und lagert an den Rändern des Feldes.

„Entschuldigung“, rufe ich dem Mann entgegen, der gerade wieder auf seine riesige Mähmaschine steigen will. „Ich suche den Schafbauern Eisl!“ Er schiebt die Unterlippe vor. „Schafbauer Eisl?“ – „Ja, die hatten früher eine Pension, sind jetzt Schafbauern.“ – „Ist das ein Bauernhaus?“, fragt er. Hm, Bauernhaus … Was immer man darunter verstehen mag. „Ja“, finde ich. „Und früher war es eine Pension. Balkone mit Geranien.“ – „Zeigen Sie mal Ihre Karte“, zeigt er auf meine Karte. „Da, das ist der Schafbauer. Aber das war nie eine Pension.“ Dann zeigt er auf eine andere Stelle: „Oder meinen Sie die Anna Eisl? Das ist wieder was ganz Anderes!“ – „Nein, nein, den Schafbauern meine ich.“ Der Mann ist ja noch relativ jung und weiß vermutlich nicht mehr, dass das früher eine Pension war. „Wie komme ich da hin?“ Er erklärt es mir, und ich trabe los.

Wichtiger ist mir ja auch eigentlich der Campingplatz, und da kommt auch schon einer. Auf der Karte habe ich gesehen, dass es hier inzwischen einige gibt. Vom Gefühl her müsste „mein“ Campingplatz der letzte sein, bevor die Landschaft einen Knick nach rechts macht. Von denen heißt allerdings keiner Eisl. „Kommt hier noch ein Campingplatz?“, frage ich zwei Passanten, während ich übrigens immer noch unter meinem grünen aufgespannten Regenschirm marschiere. „Ja, noch zwei“, antworten die.

 

Ich gehe jetzt einfach mal auf einen drauf und bis zum Ufer. Wow! Das Feeling ist schon mal da! Das seichte Ufer in den See rein, die Bäume, die Büsche mit den komischen fisseligen kleinen, schmalen Blättern, gegenüber St. Gilgen und rechts … äh – keine Spur von St. Wolfgang. Ich bin also noch nicht weit genug.

 

Ich gehe einfach am Ufer weiter, die Landschaft kommt mir weiterhin sehr vertraut vor, doch bald geht es nicht mehr übergangslos in den See hinein, sondern ein etwa einen halben Meter hohes aus Natursteinen errichtetes Mäuerchen trennt See und Campingplatz. Nein. Das gab es damals definitiv nicht. Bin ich zu weit gelaufen, muss ich zurück? Oder aber noch ein ganzes Stück weiter?

 

 

Ich frage einen älteren Camper, der oberhalb des Mäuerchens vor seinem Wohnwagen sitzt und Kreuzworträtsel löst. „Entschuldigung, können Sie mir helfen? Geht diese Mauer noch weiter, oder ist die auch demnächst wieder zu Ende?“ – „Die ist bald zu Ende“, sagt er und gibt mir einen Tipp, auf welche Weise ich am Ufer weiterkomme. Aber als ich das Ende der Mauer erreiche, bin ich auch gleichzeitig viel zu weit. „Unsere“ Stelle muss weiter vorne liegen.

 

Etwas genervt und gestresst von der Bullenhitze und der Sucherei latsche ich zurück und komme wieder am Kreuzworträtselmann vorbei. „Wir haben ja vor kurzem gesprochen. Ich habe noch einmal eine Frage. Ist dies der Campingplatz Eisl?“ Und erzähle meine Geschichte.

 

„Der Besitzer heißt nicht mehr Eisl“, erklärt er und erklärt damit auch, warum ich – auf welchem Platz auch immer – beim Stichwort „Eisl“ stets auf Kopfschütteln oder fragende Gesichter traf. Bis vor einigen Jahren sei dies noch der Eisl-Platz gewesen, und Frau Eisl habe auch die Verwaltung übernommen. Aber nun gehöre der Platz Herrn … ??? … der auf die und die Weise mit den Eisls irgendwie verknüpft sei.

 

„Die Eisls wohnen ja gleich da hinten!“, zeigt der Kreuzworträtselmann in die entgegengesetzte Richtung vom Schafbauern Eisl. „Zwischen diesen beiden Campingplätzen gibt es ein paar Häuser, das mit dem Carport davor sind die Eisls. Ich campe hier seit 40 Jahren, daher kenne ich die gut!“

 

Ich bedanke mich artig, vertage die Suche nach der richtigen Stelle auf dem Campingplatz und mache mich auf zur Villa Eisl.

„Fam. Eisl“ steht auf dem handgetöpferten Türschild. Eine jüngere Eisl-Generation hat sich hier offenbar verewigt. Mir schlägt das Herz bis zum Hals, als ich erst ein paar Fotos mache und dann auf den Klingelknopf drücke.

 

„Ja!“, ruft jemand, und dann öffnet eine alte Dame die Tür. ‚Ein Glück, eine ältere Person‘, schießt es mir durch den Kopf. ‚Die weiß vielleicht noch was von früher.‘ Dann stelle ich mich vor und erzähle meine Geschichte.

„Das interessiert mich jetzt aber schon!“, sagt sie. „Nehmen Sie Platz, ich komme gleich!“ Ich setze mich auf die Bank vor dem Haus und frage mich, ob es die Bank damals auch schon gegeben hat. Auf dem Tisch steht ein Korb mit frisch gepflückten Äpfeln. Dann kommt sie wieder und hat eine gepolsterte Sitzauflage für die Bank für uns beide dabei. „Nun erzählen Sie noch mal!“ Ich erzähle die ganze Story aus den Sechzigerjahren, und dann sagt sie diesen Satz: „Ja, an die Familie Bartling kann ich mich erinnern! Das sagt mir was!“

 

Agnes und Peter Eisl waren unsere damaligen Vermieter, Anna Eisl (wie der von mir befragte Bauer sagte: Das ist wieder ganz was Anderes als der Schafbauer) ist die Tochter vom Bruder von Peter Eisl, also die Nichte des damaligen Vermieters. Und wuselte offenbar damals schon in der Pension herum. Heute ist sie 80 Jahre alt. Vor einem Jahr hat sie ihren Mann verloren.

„Wie können Sie Eisl heißen, wenn Sie geheiratet haben?“, wundere ich mich. Anna lacht. „Ich habe einen Eisl geheiratet!“ Es verdichtet sich das Bild, das sich während meines viertägigen Aufenthaltes am Wolfgangsee noch konkretisieren wird: Alles voller Eisls. Verliebt, verlobt, verheiratet, zerstritten, verhasst. Schafbauer Eisl? Kennen wir nicht. Das ist irgendwer. Auf dem Campingplatz aber wurde eine Demarkationslinie zwischen Campingplatz Schafbauer und Campingplatz Pension Eisl gezogen. Eine weitere Dauercamperin wird später sagen: „Die Eisls - das ist eine Dynastie.“ Wenn man in St. Gilgen über den Friedhof geht: Alles voller Eisls. Agnes und Peter sind mir allerdings dort nicht begegnet, und ich habe leider versäumt, Anna danach zu fragen.

„Wollen wir an die Badestelle gehen?“, fragt mich Anna. „Gern! Aber darf ich vorher ein Foto von Ihnen machen?“ Sie zögert kurz. Dann: „Gut. Aber dann muss ich mich erst herrichten.“ Verschwindet im Haus und kommt fünf Minuten später gekämmt wieder raus. Und hat eine Postkarte dabei: aus alten Zeiten, abgebildet ist der See und das Haus Anita – mit Geranien. "Die möchte ich Ihnen schenken!" Ich könnte sie dafür knutschen und verstaue diesen Schatz in der sichersten Tasche meines Rucksacks. „Geranien pflanze ich seit einigen Jahren nicht mehr“, sagt sie. „Das macht zu viel Arbeit. Aber die Leute regen sich darüber auf, dass ich keine Geranien mehr habe.“ – „Draufsezten“, empfehle ich. „Ich bin hier vorhin auch mit einem Regenschirm gegen die Sonne langgelaufen, da war mir auch egal, was die Leute sagen.“ – „Ich habe Sie gesehen mit dem Schirm“, erzählt sie. „Und mir gedacht: Da verträgt wohl jemand die Sonne nicht.“ Aber ich sei nicht die Einzige. Viele würden einen Schirm benutzen.

 

Ich knipse Anna auf der Bank sitzend vor ihrem Haus, und sie lächelt in die Kamera.

Bevor wir zur Badestelle losmarschieren, darf ich noch einen Blick in das Haus werfen. Die Treppe nach oben zu den früheren Pensionszimmern! Anna erlaubt mir, sie zu fotografieren. Und dann darf ich vor dem Haus noch meine Wasserflasche mit Wasser aus dem Garten-Wasserhahn füllen. „Wow, original Eisl-Wasser in meiner Wasserflasche!“, schießt es mir durch den Kopf, und ich muss lachen, denn nun übertreibe ich wohl etwas mit meiner Euphorie.

 

Dann umkurven wir auf wenigen Metern das Gebäude, das bis vor einigen Jahren weiterhin als Pension Anita diente, und gelangen zu einer Fläche, auf der sich diverse Menschen auf Liegen oder auf dem Boden ausgebreitet haben: the next generation Eisl. „Das ist mein Sohn. Das ist meine Schwester. Das ist meine Enkelin. Diese beiden Mächen sind Zwillinge, meine Urenkel. Das ist mein zweiter Sohn, der macht immer Unsinn.“

 

Und wie aufs Stichwort legt der los: „Sie sind aus Braunschweig? Die knackigen Braunschweiger sind hier bekannt und beliebt, die müssen allerdings so knackig sein, dass man sie …“ Er macht eine ruckartige Handbewegung vor seinem Kiefer … „so abknacken kann. Die gibt es hier immer donnerstags!“ – „Prima“, entgegne ich, „dann komme ich donnerstags mal vorbei, an knackigen Braunschweigern bin ich ebenfalls interessiert, die gibt es bei uns nämlich nicht.“ Die gemeinten Würstchen seien mir allerdings nicht bekannt.

 

Es beeindruckt mich aber schon, dass, wenn ich sein Österreichisch richtig verstanden habe, dort in der Nähe jeden Donnerstag Braunschweiger Würstchen verkauft werden. Auch Anna bestätigt, dass dies eine bekannte Speise sei – wenn nicht sogar von „Delikatesse“ die Rede ist.

 

Als ich Anna von einem Ereignis im Spar-Markt von St. Gilgen erzählte, ruft sie gleich eine weitere Verwandte zu sich: „Was war da heute Morgen los im Spar?“ Und zu mir: „Sie arbeitet nämlich dort!“ Zweite Tage später werde ich sie im Spar-Laden ansprechen, als sie dabei ist, Regale einzuräumen. „Wir kennen uns doch von der Eisl-Badebucht!“ – „Ach ja, klar!“, wird sie rufen.

 

Die Badestelle der Pension Eisl
Die Badestelle der Pension Eisl

Wenigstens mit den Füßen muss ich jetzt mal in den Wolfgangsee. Ich krempele meine Hosenbeine hoch und ziehe die Schuhe aus. „Bei Ihnen an der Nordsee haben Sie ja Sand, hier ist es leider steinig“, sagt Anna. Und tatsächlich: Der Weg ins Wasser ist beschwerlich. Aber dennoch: „WOW! Wolfgangsee!“, rufe ich, und eine Enkelin lacht.

 

Zurück an Land spreche ich endlich das Thema Campingplatz an. „Ich steige durch diese ganzen Plätze nicht richtig durch, welcher Abschnitt gehört denn zu Familie Eisl – äh – zu Ihrer Familie Eisl, also zur damaligen Pension?“, frage ich. „Der Platz, von dem ich glaubte, das sei der richtige, hat diese Mauer, der konnte es also nicht sein, weil unser Platz keine Mauer hatte.“

 

„Doch“, sagt Anna. „Genau der ist es. Wir mussten vor einigen Jahren die Mauer bauen, da der Platz dauernd überflutet wurde.“ Hammer. Das erklärt alles. Intuitiv war ich ja vorhin bereits der Meinung, dass genau die Mauer-Stelle die richtige sein musste. Also muss ich da später noch mal hin.

 

Aber jetzt plaudere ich mit Anna Eisl. Sie erzählt mir, dass die Zwölferhorn-Seilbahn noch immer dieselbe von damals sei, und dass sie sich dadurch erfolgreich trage, dass auf den gebuchten Salzkammergut-Tour-Plänen der asiatischen Touristen immer auch eine Fahrt mit der Seilbahn stehe.

 

Von einer Fahrt mit der Schafbergbahn, der steilsten Bahn Österreichs, auf den ca. 1.500 Meter hohen Schafberg rät sie mir ab: „Das geht zu schnell hoch! Mit dem Höhenunterschied kommen viele nicht klar! Da gibt es schnell mal Herzprobleme!“ Gott sei Dank! Endlich habe ich einen guten Grund, in das Vieh nicht einzusteigen.

 

Dann sprechen wir über Sportarten, die es in den 60ern noch nicht gab, heute aber total angesagt sind: Zum Beispiel Stand-Up-Paddeling oder Paragliding von den hohen Bergen. „Dort oben fliegt gerade wieder einer!“ Sie kennt natürlich auch eine Geschichte von einer Frau, die in einem Baum hängengeblieben ist, die Sache ging aber harmlos aus.

 

Und von Hallstadt erzählt sie, einem idyllischen Ort in der Nähe, den Chinesen so pittoresk fanden, dass sie ihn in China nachgebaut haben, wie Disneyland. „Nun kommen die Chinesen alle her, um das Original anzuschauen“, lacht Anna.

Hier standen früher die Garben
Hier standen früher die Garben

Ich frage sie nach der Wiese mit den damals aufgestellten Garben. Gibt es die noch? Ja, sagt Anna, das sei die Wiese gleich gegenüber. Vieles sei aber auch inzwischen zugebaut.

 

Eine Enkelin erzählt von einem Ereignis auf der nahegelegenen Postalm, und ich bekomme einen Eindruck von den ganz anderen Gefahren, denen Autofahrer in dieser Gegend ausgesetzt sind: Das Auto einer Bekannten wurde auf der Alm total zerkratzt: Von Kuhglocken! „Wenn so blöd geparkt wird, dass es für die Kühe zu eng wird, kann das schon passieren!“, erklärt mir die junge Frau. Und: „Es kann aber auch passieren, dass Pferde in die Autos beißen! Die schlecken alles ab. Das gibt unschöne Kratzer.“

 

Es ist spät geworden, und ich muss mich um meine Rückfahrt mit dem Bus kümmern. Die Enkelin googelt für mich mit dem Handy und sucht den nächsten Bus raus. Ich verabschiede mich von der Familie und stelle Annas und meinen Stuhl zurück in die Holzbude, aus der die Enkelin sie vorhin geholt hatte. Als ich meine Nase in die Bude stecke, ist er für einen kurzen Augenblick wieder da: der Österreich-Geruch von frisch gemähtem Stroh, der Stroh-Garben-Geruch.

 

Anna und ich verabschieden uns sehr herzlich und ich verspreche ihr, eine Postkarte aus Braunschweig zu schicken.

 

 

Noch mal Campingplatz

Nachdem ich nun weiß, dass die Mauerstelle die richtige Campingstelle ist, mache ich mich zwei Tage später noch einmal auf den Weg – dieses Mal allerdings mit dem Bus. Es gibt dort einen Campingplatz „Primus“ und einen Campingplatz „Primusbauer“. Beide gehören der Familie Appesbacher – dieser Name wurde vorgestern andauernd genannt, nur der ältere Herr wusste, dass sich hinter dem einen Appesbacher der Name Eisl verbarg.

 

Ich frage an der Rezeption eines der Plätze sicherheitshalber noch mal nach dem (früheren) Eisl-Platz. Ein junges Mädchen zeigt mir den Weg und sagt: „Mein Vater ist der Bruder von Anna Eisl, Peter war mein Großvater.“ Mir wird langsam schwindelig von der ganzen Eislei.

 

Als ich nach dem Platz mit der Mauer suche, will mich eine Camperin verjagen: „Hier ist privat!“ Nachdem sie meine Geschichte angehört hat, lächelt sie aber und sagt: „Fragen Sie doch dort mal den Herrn Winter“, und zeigt auf den Kreuzworträtselmann. „Der beißt nicht!“

 

„Ich weiß“, lächele ich zurück, „wir kennen uns bereits.“ Und zu Herrn Winter: „Vielen Dank für den Tipp vorgestern, der war Gold wert, ich habe Anna Eisl gefunden und gesprochen.“

 

Dann entdecke ich eine Stelle, von der ich überzeugt bin: Das ist sie! Das ist unsere Stelle von damals! Direkt vorn am Wasser. Und sie ist sogar frei, kein Wohnwagen steht drauf. Klar, die Bartlings sind ja auch nicht da. Hier werde ich mich für ein Stündchen niederlassen und die Situation genießen. Schließlich bin ich für diesen einen Augenblick so viele Kilometer angereist.

 

„Das ist hier privat!“, ermahnt mich eine neue weibliche Stimme von hinten. Ich atme tief durch und erzähle erneut meine Geschichte. Als würde eine Jalousie hochgezogen, ändert sich ihr Gesichtsausdruck von unfreundlich in hoch erfreut. „Sind Sie die Dame, die vorgestern Anna Eisl besucht hat?“ – „In der Tat, die bin ich.“ – „Das hat sie mir erzählt! Sie hat sich sehr gefreut! Warten Sie!"

 

Dann verschwindet die Lady und bringt nach und nach eine Campingbank, einen Tisch, Sitzpolster, eine Karaffe mit Wasser und Minzblättern und zwei Gläser. Dann erzählt sie Kompliziertes über die ganzen Eisls in der Gegend. „Das ist eine Dynastie!“

 

Zwischendurch lässt sie mich immer wieder allein, um in ihrem Wohnwagen zu verschwinden. Ich genieße diese Minuten und fühle mich ein wenig wie damals. Dank des ganzen Equipments, das die Dame angeschleppt hat, stellt sich bei mir ein Original-Campinggefühl ein. Ich lasse meinen Blick über den See schweifen und fühle die friedliche Stimmung von damals

 

 

Weißes Rössl
Weißes Rössl

Dann muss ich wieder los, da ich für heute noch ein bis zwei Schiffstouren geplant habe.

 

„Grüßen Sie die Anna von mir, ich konnte heute leider nicht noch mal bei ihr vorbei, da ich ein volles Programm habe!“ – „Aber vielleicht kommen Sie morgen noch mal zu mir?“ – „Vielleicht!“

 

Weiter geht’s nach Strobl und von dort mit dem Schiff nach St. Wolfgang. Was für ein idyllisches Städtchen! Auf der glasüberdachten und mit Peter-Alexander-Liedern beschallten Terrasse vom Weißen Rössl ist es leider bei weiterhin tropischen Temperaturen viel zu heiß, so dass ich in ein Lokal mit Außensitzplätzen gegenüber dem Schwarzen Rössl wechsele, um dort Gulasch mit Klößen zu essen.

 

Anschließend statte ich – nur der Vollständigkeit halber – der Schafbergbahn-Station einen Besuch ab. Damals hatte ich dort mein Kleid an einer Lokomotive eingesaut, was mir ziemlichen Ärger mit meiner Mutter eingebracht hatte. Außerdem wurde später stets behauptet, ich hätte mit einem Lokomotivführer „geflirtet“. Mit skeptischen Gefühlen beobachte ich die fahrenden und kommenden, modernen Bahnen und spreche auch mit einem Lokomotivführer, um auch hier das Gestern-Gefühl zumindest ein wenig zu bedienen, und kehre zurück zum Schiffsanleger.

 

Auf der Fahrt zurück nach St. Gilgen fährt das Schiff extrem nah an dem abweisenden weißen Felsen Falkenstein vorbei. So nah, dass man eine in den Felsen eingebrachte Inschrift lesen kann. „Hier war ich schon mal!“, schießt es mir durch den Kopf. „Das habe ich schon mal gelesen!“ Es ist aber ein gruseliges Gefühl, genauso gruselig wie heute werde ich damals die Fahrt vorbei an diesem abweisenden Felsen empfunden haben. Beim genauen Hinsehen erkenne ich zwei Bergsteiger, die an dem Felsen herumklettern. Mit Grauen wende ich mich ab.

 

Mit einem Bad im Wolfgangsee an einer kleinen Badestelle in St. Gilgen lasse ich diesen Tag ausklingen. Mal sehen: Vielleicht fahre ich morgen wirklich noch mal zu der Wohnwagen-Dame, die mich so nett eingeladen hat. Schließlich steht noch ein Bad an „unserer Stelle“ aus.

 

Campingplatz vom Wasser aus

Am nächsten Tag setze ich, mit Badesachen im Gepäck, abermals nach St. Wolfgang über, um von dort mit Bus oder Schiff zum Campingplatz gegenüber zu fahren. Aber schon auf dem Weg nach St. Wolfgang überfällt mich wieder dieses Unwohlsein, eine Mischung aus Panik im Kopf und Herzbeschwerden. Die einengenden Berge, die Hitze und die Höhenluft machen mir wieder zu schaffen. In St. Wolfgang steige ich in den nächstbesten Kahn, der mich wieder zurück nach St. Gilgen bringen soll.

 

Rechts neben dem Baum in der Bildmitte habe ich vorgestern mit der Lady gesessen.
Rechts neben dem Baum in der Bildmitte habe ich vorgestern mit der Lady gesessen.

Aber der fährt eine ganz andere Route! Nämlich am gegenüberliegenden Ufer entlang, ganz, ganz nah an den Campingplätzen vorbei! Ich kann sogar die Stelle erkennen, an der vielleicht die Lady heute auf mich wartet. Sogar Campingstühle und Campingtisch kann ich erkennen, die bereits wieder an der bewussten freien Stelle bereit stehen. Auch den Wohnwagen und den heute verwaisten Campingstuhl des Kreuzworträtselmanns kann ich deutlich ausmachen. Besser hätte es gar nicht laufen können, ich bin unheimlich glücklich, auch diese Perspektive noch einmal genießen zu können.

 


Am Himmel grummelt es. Schwarze Wolken sind aufgezogen. In St. Gilgen erreiche ich meine Unterkunft gerade so trockenen Fußes. Dann brechen ein Donnerwetter und ein Wolkenbruch hernieder, wenig später fällt der Strom aus. Nicht auszumalen, wenn ich das auf dem Campingplatz hätte erleben müssen.

 

Danke, Bauchgefühl. Alles richtig gemacht!